Urteile 2022

Auch in diesem Jahr entschied der Bundesgerichtshof (BGH) über rechtlich interessante und vor allem für das Examen relevante Sachverhalte. Während eine vollumfängliche Darstellung der Schwerpunkte den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, ermutige ich jeden Jurastudierenden, sich die besprochenen Urteile aus 2022 zu Gemüte zu führen.

Kein Widerrufsrecht beim Kauf von Eintrittskarten über eine Vorverkaufsstelle

Wer online Eintrittskarten bei einer Vorverkaufsstelle erwirbt, die als Kommissionärin des Veranstalters handelt, hat kein fernabsatzrechtliches Widerrufsrecht nach § 312g Abs. 1 BGB. Dies entschied der BGH in seinem Urteil vom 13.7.2022 (Az. VIII ZR 317/21).

Die Klägerin erwarb Karten zum Preis von insgesamt 756,46 Euro für eine aufgrund der Pandemie abgesagte Veranstaltung von der beklagten Ticketsystemdienstleisterin, die selbst nicht Veranstalterin war. Nachdem die Veranstaltung, ein Musical, abgesagt wurde, begehrte die Klägerin die Erstattung des Ticketpreises von der Beklagten, die jedoch ablehnte und der Klägerin Wertgutscheine in Höhe des Verkaufspreises (erfolglos) anbot. Der BGH gab an, dass der Klägerin ein Anspruch auf Erstattung des Betrags nicht zustehe und stellte zunächst klar, dass es sich bei dem zugrundeliegenden Rechtsgeschäft um einen Rechtskauf nach § 453 Abs. 1, §§ 433 f. BGB handelt.

Die Leistungspflicht beziehe sich daher nicht auf die Durchführung der Veranstaltung, sondern auf die Verschaffung des Besitzes und Eigentums an den entsprechenden Eintrittskarten. Übrigens: Eintrittskarten verbriefen als sog. kleines Inhaberpapier das Recht des Kunden auf Zutritt zur Veranstaltung i.S.d. § 807 BGB. Durch die Übereignung der Karten hat die Beklagte ihre Verpflichtung aus dem Rechtskaufvertrag daher erfüllt. Allein die Veranstalterin sei für die Durchführung des Musicals und die Gewährung der Teilnahme (§§ 807, 793 Abs. 1 S. 2 BGB) verantwortlich und hafte daher für die Unmöglichkeit dieser Leistung – im Gegensatz zur Beklagten.

Der BGH stellt weiter fest, dass es sich hier zwar um einen Fernabsatzvertrag nach § 312c Abs. 1 BGB handelt, die Ausnahme des § 312g Abs. 2 Nr. 9 BGB jedoch greife und daher kein Widerrufsrecht vorliege. Letztlich stehe der Klägerin auch kein Anspruch auf Rückzahlung des Ticketpreises wegen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage zu, da die Veranstalterin als Ersatz einen auszahlbaren Wertgutschein angeboten habe, dessen Annahme dem Käufer regelmäßig zuzumuten sei (vgl. „Gutscheinslösung” des Art. 240 § 5 EGBGB).

Schließung wegen Corona: Fitnessstudios müssen Beiträge zurückzahlen

Der BGH beantwortete die vieldiskutierte Frage nach einem Anspruch auf Erstattung der Mitgliedsbeiträge durch die Betreiber von Fitnessstudios nun abschließend in seinem Urteil vom 4.5.2022 (Az. XII ZR 64/21). Für die Monate, während derer das Studio aufgrund der Pandemie geschlossen war, müssen die entrichteten Beiträge an die Mitglieder gemäß §§ 275 Abs. 1, 326 Abs.1 S.1 und Abs. 4, 346 f. BGB zurückgezahlt werden. Das Erteilen eines „Trainingsgutschein” sei unzureichend. Die Beklagte (Betreiberin eines Fitnessstudios) konnte ihre vertraglich geschuldete Hauptleistungspflicht, namentlich das Ermöglichen der Nutzung des Fitnessstudios, nicht erfüllen; eine rechtliche – nicht nur vorübergehende – Unmöglichkeit lag vor.

Gerade die regelmäßige und ganzjährig Öffnung des Fitnessstudios sei von zentraler Bedeutung, da der Zweck des Vertrages insbesondere in der regelmäßigen sportlichen Betätigung liege. Und dieser Vertragszweck konnte während der Schließung schlichtweg nicht erreicht werden. Auch habe die Beklagte keinen Anspruch nach § 313 Abs. 1 BGB auf Anpassung des Vertrags in der Form, dass der Zeitraum der Schließung am Ende der Laufzeit kostenlos angehängt werde: Es liegt eben keine Störung der Geschäftsgrundlage, sondern eine Leistungsstörung vor. Die Annahme des § 313 Abs. 1 BGB verkenne das Konkurrenzverhältnis zu § 275 Abs. 1 BGB: Wenn die Vorschriften über die Unmöglichkeit einschlägig sind, so kommt eine Vertragsanpassung an die tatsächlichen Umstände nicht in Betracht.

Klausel zur Fernabschaltung der Batterie durch den Vermieter ist unzulässig

Wir bleiben im Zivilrecht und werfen einen Blick auf die Entscheidung des BGH (Urt. v. 26.10.22 – XII ZR 89/21) über die (Un-)Wirksamkeit einer Klausel, welche dem Vermieter erlaubt, Batterien für Elektrofahrzeuge per Fernzugriff abzuschalten. Klägerin war im vorliegenden Sachverhalt ein Verbraucherschutzverein und die Beklagte eine französische Bank, die Batterien an ihre Kunden für deren gekaufte oder geleaste Elektroautos vermietet. Ihre „Allgemeinen Batterie-Mietbedingungen” beinhalteten eine Klausel, nach der die Beklagte als Vermieterin im Falle der außerordentlichen Vertragsbeendigung durch Kündigung nach einer vorherigen Ankündigung die Auflademöglichkeit der Batterie sperren kann. Die Klägerin verlangte nun das Unterlassen der Verwendung dieser Klausel. Vorinstanzlich wurde die Beklagte auch hierzu verurteilt, was der BGH nun im Ergebnis bestätigte.

Die Auflademöglichkeit der Batterie zu sperren, stelle eine verbotene Eigenmacht i.S.d. § 858 Abs. 1 BGB dar. Durch die Klausel versuche die Beklagte missbräuchlich die eigenen Interessen durchzusetzen und berücksichtige diejenigen des Mieters nicht ausreichend. Nur die Vermieterin hat die Möglichkeit der Sperrung, worin eine unangemessene Benachteiligung des Mieters liegt, da dieser den Gebrauch seines Fahrzeugs nur durch gerichtliche Geltendmachung einer weiteren Gebrauchsüberlassung der Batterie erreichen kann.

Der BGH erkennt das berechtigte Interesse der Vermieterin, die Nutzung der Mietsache nach Beendigung des Mietverhältnisses zu unterbinden, zwar an, hält dem jedoch das Interesse des Mieters, sich die weitere Vertragserfüllung zu sichern, entgegen. Dieses sei insbesondere dann berechtigt, wenn die zugrundeliegende Kündigung streitig sei – etwa, wenn sich der Mieter auf eine Mietminderung oder ein Zurückbehaltungsrecht aufgrund von Mängeln berufe. In diesem Fall bestehe das Risiko, dass seitens der Vermieterin dennoch die Kündigung erklärt wird und die Nutzung des Mietobjekts nicht mehr möglich ist, wodurch auch das E-Fahrzeug als wesentlich höherwertiger Vermögensbestandteil unbrauchbar wird. Weiter habe der Mieter auch keine zumutbare Möglichkeit, die Batterie durch ein anderes Fabrikat zu ersetzen, da diese a) herstellergebunden und b) mit dem Fahrzeug verknüpft ist. Im Verwenden der Klausel liegt eine ungerechtfertigte Risikoabwälzung auf den Mieter, weshalb diese nach § 307 Abs. 1, 2 BGB unwirksam ist.

Heimtücke: Arglosigkeit des Opfers

Eines der wohl umstrittensten Mordmerkmale ist die Heimtücke, mit der sich auch der BGH in seinem Urteil vom 15.2.2022 (Az. 4 StR 491/21) beschäftigt. Folgendes ist geschehen: Der Angeklagte entwickelte aufgrund einer paranoiden Schizophrenie die Wahnvorstellung, seine Ehefrau, von der er getrennt lebte, würde innerhalb der Familie gegen ihn intrigieren. Um dies zu unterbinden und eine – in seinen Augen – von ihr ausgehende Gefahr zu stoppen, begab sich der bewaffnete Angeklagte in die Wohnung seiner Ehefrau, in der sich zu diesem Zeitpunkt auch der Bruder des Angeklagten und dessen Frau befanden. Es kam zum Streit zwischen den Beteiligten, in dessen Verlauf es zu Gerangel kam und der Angeklagte seinen Bruder aufforderte, mit ihm vor die Tür zu gehen, was dieser nicht tat. Der Streit eskalierte und der Angeklagte schoss auf seinen Bruder und seine Schwägerin, welche durch den Schuss in den Brustkorb verstarb. Er wurde vom LG Bielefeld wegen Mordes in Tateinheit mit versuchtem Mord und gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Der BGH kritisierte das Urteil jedoch, da das LG von einem unzureichenden Verständnis der Heimtücke ausgegangen sei.

Die Arglosigkeit des Opfers lasse sich nämlich nicht nur damit begründen, dass dieses nicht mit einem lebensbedrohlichen Angriff gerechnet hat; vielmehr muss darauf abgestellt werden, ob das Opfer einen Angriff gegen die eigene Person erwartete, als der Angeklagte die Waffe aus seinem Hosenbund zog. Besorgt das Opfer einen nicht unerheblichen Angriff auf seine körperliche Integrität, ist es selbst dann nicht arglos, wenn es die Gefährlichkeit des erwarteten Angriffs unterschätzt, da es beispielsweise von der Bewaffnung des Täters keine Kenntnis hat. Daher ließe sich die Arglosigkeit der Geschädigten im vorliegenden Fall nicht allein schon damit begründen, dass diese nicht mit einem bewaffneten oder lebensbedrohlichen Angriff des Angeklagten rechneten.

Es geht für die Bejahung der Arglosigkeit maßgeblich um die Frage, ob die Geschädigten zum Zeitpunkt des Ziehens der Waffe mit einem wie auch immer gearteten Angriff gegen ihre Person gerechnet hatten – ob nun mit Hilfe der Schusswaffe oder nicht. Als der Angeklagte in die Wohnung drang, ging sein Bruder davon aus, dass sich dieser mit ihm schlagen wolle. Unklar bleibt jedoch, ob die tätliche Auseinandersetzung aus der Sicht des Geschädigten unmittelbar bevorstand oder nach einer zeitlichen Zäsur erwartet wurde. Auch seitens der Getöteten ist nicht zu klären, ob diese in der Tatsituation einen Angriff des Angeklagten für möglich hielt. Das Vorliegen der Heimtücke muss erneut geprüft und hierüber entschieden werden.

Straflose Beihilfe zum Suizid trotz aktivem Tun

Wo verlaufen die Grenzen der strafbaren Tötung auf Verlangen (§ 216 Abs. 1 StGB) und der straflosen Beihilfe zum Suizid? Mit dieser Frage beschäftigte sich auch der BGH in seiner Leitsatzentscheidung (Beschl. v. 28.6.2022, Az. 6 StR 68/21).
Eine ehemalige Krankenschwester hat ihrem schwerkranken Ehemann auf dessen Wunsch eine letale Dosis Insulin per Spritze verabreicht. Den Sterbewunsch hegte er bereits seit einigen Jahren und äußerte diesen auch – zum Ende hin wöchentlich – gegenüber seiner Ehefrau, welche ihn pflegte. Hochdosierte Medikamente blieben bei den starken Schmerzen des Mannes wirkungslos.

Eines Abends forderte der Ehemann seine Gattin daher auf, ihm alle im Haus befindlichen Tabletten zu bringen und notierte auf ihr Bitten hin noch, dass es sein Wille sei, aus dem Leben zu scheiden, er seiner Frau verboten habe, einen Notarzt zu rufen und er hoffe, dass die Anzahl der vorhandenen Tabletten für seinen Suizid genügen würden. Daraufhin reichte die Ehefrau ihm die Tabletten, welche er selbstständig hinunterschluckte. Auf seine Aufforderung holte die Gattin noch alle vorhandenen Insulinspritzen und verabreichte ihm sechs davon – eine tödliche Dosis. Er schlief ein und verstarb in der Nacht aufgrund des injizierten Insulin – ein Arzt wurde von ihr nicht gerufen.

Während das LG Stendal eine Tötung auf Verlangen aufgrund des aktiven Tuns als erwiesen ansah, widersprach der BGH: Er bejaht die Beihilfe zum Suizid und verneint damit jegliche Strafbarkeit der angeklagten Ehefrau. Bei der Abgrenzung komme es vor allem auf die normative Betrachtung an, eine „naturalrealistische”, also auf dem tatsächlichen Vorgang beruhende Differenzierung zwischen aktivem und passivem Handeln sei nicht zielführend. Das im Tod resultierende Geschehen sei durch den Ehemann beherrscht worden, selbst wenn tatsächlich die Angeklagte die Spritzen verabreichte. Die zuvor eigenständig eingenommenen Tabletten hätten primär zum Tod führen sollen (was sie auch getan hätten, nur eben zu einem späteren Zeitpunkt). Das Insulin sollte den Eintritt des Todes nur sicherstellen. Die Einnahme der Tabletten und das Spritzen des Insulins bildeten einen Gesamtplan, einen einheitlichen Akt, der vom Ehemann selbst bestimmt wurde.

Eine Unterlassensstrafbarkeit liege indes auch nicht vor, da es an einer Garantenstellung der Angeklagten in der konkreten Situation mangele: Ein ohne Wissens- und Verantwortungsdefizit gefasster und erklärter Sterbewille führt zur situationsbezogenen Aufhebung der Einstandspflicht des einen Ehegatten für das Leben des anderen.

Bild: Adobe Stock/©nmann77
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