Im Jurastudium wird man mit Lernstoff zugeschüttet. Doch was zeichnet gute Juristerei wirklich aus? RA Arnim Rosenbach, Lehrbeauftragter für die LMU München und der Berliner Humboldt Universität , will mit „Lege Artis“ mehr Methodik und weniger Büffelei in die Juristenausbildung bringen. Im Fachgespräch mit Dr. Dominik Herzog verrät er, was es damit auf sich hat.
Inhaltsübersicht
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Teil I: Was man im Jurastudium nicht lernt, aber für die Praxis braucht
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Teil II: „Lege Artis“: Initiative für mehr Methodik und weniger Lernstoff
Dominik: In diesem Fachgespräch geht es um die Zukunft der Juristenausbildung und das Jurastudium. Dafür bin ich heute bei Arnim Rosenbach, Rechtsanwalt und Lehrbeauftragter, der sowohl die Sicht der Universitäten als auch der praktizierenden Anwaltskanzleien kennt. Ich würde gerne zu Beginn aus der NJW 15 2009/10 zitieren; aus dem Editorial von Frau Professor Doktor Katrin Gierhake aus Regensburg. Sie sagt, sie kennt keinen Kollegen, der folgender Aussage nicht zustimmen würde: „Den guten Juristen erkennt man nicht an der Kenntnis unendlich vieler Details und Meinungen, nicht an der Fähigkeit zur Repetition erlernten Wissens und auch nicht an eingehämmerten Schlagwörtern.“ Die Forderung von Frau Professor Gierhake: den Stoff pro Fachsäule um die Hälfte reduzieren, also einfach die Hälfte des Stoffs wegzulassen, denn er ist nicht relevant und es kommt nicht darauf an, Dinge auswendig zu lernen. Aber woran erkennt man dann eine gute Juristin bzw. einen guten Juristen?
Eine gute Juristin/ein guter Jurist ist nah am Leben
Arnim Rosenbach: Eine gute Juristin bzw. ein guter Jurist wird am „denken können“ gemessen. Und wie bringt sie bzw. er das zum Ausdruck? Dadurch, dass die gute Juristin/der gute Jurist folgendes kann: Erst einmal interessiert sie/er sich brennend für das Leben, dass sie/ihn zur Gestaltung oder Beurteilung anvertraut wird. Das ist in der Universität schon nicht der Fall. Sachverhalte fallen vom Himmel und liegen in gedruckter Form vor – nein! Man muss sich für das Leben interessieren und das aus den Interessen und den Empfindungen der Beteiligten verstehen. Das machen alle wirklich guten Juristinnen und Juristen.
Zweitens muss man genaue Aufmerksamkeit darauf richten, was eigentlich rechtlich gefragt ist. Man muss sich also auf die Fragestellung fokussieren, denn genau das ist es, was hinterher abgearbeitet wird – das und nichts anderes. Die gute Juristin oder der gute Jurist erkennt also die Fragestellungen, die sich aus dem Sachverhalt ergeben. Sie oder er interessiert sich dafür, was die Beteiligten wirklich wollen bzw. was sie interessiert. Dann destilliert sie/er, sofern es nicht, wie etwa in einer Klage, vorgegeben ist, die Fragestellung heraus. Eine gute Juristin oder ein guter Jurist kann außerdem gut fragen.
Souverän mit Gesetz umgehen
Das dritte Element ist dann, dass sie oder er souverän mit dem Gesetz umgehen kann. Die Fragestellungen, die aus dem Leben kommen, arbeitet die Juristin oder der Jurist anhand von Gesetz und Recht ab. Das steht so in Artikel 20 Absatz 3 unserer Verfassung, aber ist weit entfernt davon, im Rechtsstudium tatsächlich im Mittelpunkt zu stehen. Die gute Juristin oder der gute Jurist greift zuerst zum Gesetz, destilliert die anwendbaren Rechtsregeln heraus und kann dann anhand dessen die Antwortfahrpläne entwickeln, aus denen sich die rechtliche Beurteilung der Frage ergibt.
D: Aber lernt man genau diese Fähigkeiten im Jurastudium nicht?
AR: Leider nicht.
D: Das ist auch meine Beobachtung. Das, was ich aus vielen Gesprächen mit Studierenden immer wieder heraushöre. Das ist letztlich auch ein Grund, warum es diesen Kanal gibt. Der Druck ist immens, wie wir unter anderem auch von Frau Professor Gierhake gehört haben. Sie sagt, es ist viel zu viel Stoff. Den braucht man gar nicht. Das bestätigst du ja auch gerade und was ich bei deiner Vita besonders spannend finde: Du kommst nicht aus der reinen Lehre, sondern aus der Praxis.
Du bist Anwalt, Mediator und hast über 20 Jahre Berufserfahrung und ebenso lang unterrichtest du auch Studierende an verschiedenen Universitäten. Daher hast du nicht nur den Blick für die Theorie, sondern auch für das Praktische. Zusätzlich kannst du eine Verbindung zwischen Theorie und Praxis ziehen und du sagst trotzdem oder gerade deswegen, das was man eigentlich als gute Juristin oder guter Jurist braucht, das lernt man nicht an der Universität. Deine Erkenntnis, dass die momentane Ausbildung, nicht wirklich auf die Praxis vorbereitet– ist das die Erkenntnis deiner praktischen Tätigkeit als Anwalt oder hattest du diese schon viel früher?
Anforderungen im Jurastudium erzeugen enormen Druck
AR: Diese Erkenntnis ergibt sich aus jeder Richtung, zum Beispiel aus den Coachings der Studierenden. Die kommen und haben keinen Plan von der Methode der juristischen Falllösung. Die wird aber an der Universität und auch in Repetitorien vorausgesetzt. Man nimmt an, dass das nicht weiter erläuterungsbedürftig ist und dann sollen die Studierenden anhand von materiellem Wissen Fälle lösen. Im Grunde sind sie aber aufgeschmissen, denn nur der- oder diejenige, der/die den klaren Plan von seiner eigenen Methode hat, kann diesen auch anwenden. Meiner Erfahrung nach haben die Studierenden diesen Plan nicht! In den 25 Jahren, in denen ich viele hunderte junge Menschen ausbilden durfte, gab es niemanden, der oder die mir die juristische Methode wirklich sauber darlegen konnte. Das Zweite ist, dass die anwaltlichen Produkte, mit denen ich mich sonst befasse, oft weit entfernt davon sind, wirklich mit dem Recht umzugehen.
Die Begriffe werden beliebig durcheinander geworfen und gesetzliche Bestimmungen werden nicht zitiert, weil sie für überflüssig gehalten werden. Das geht vielleicht am Amtsgericht oder Landgericht, aber je weiter oben, desto mehr muss tatsächlich sauber gearbeitet werden. Insofern ist das im Grunde ein ziemliches Desaster – und das Erstaunlichste ist, es scheint niemanden wirklich zu stören. Die Durchfallquoten im Jurastudium sind immens und Veranstaltungen, in denen derartige Methoden im Mittelpunkt stehen, sind die Ausnahme.
D: Man wird immer mit Stoff zugeschüttet, aber die Methodik kommt zu kurz. Der Gutachter-Stil wird vielleicht am Anfang des ersten Semesters mal so ein bisschen erklärt und ab dann wird es im Prinzip vorausgesetzt und es wird nie wieder darüber gesprochen.
Entscheider wollen Jurastudium nur widerwillig reformieren
AR: Und ich bin sozusagen mein eigenes Beispiel, dass es so nicht geht! Trotz brennendem Interesse für das Recht, ist es mir gerade nicht gelungen, an dieser Eingangs-Einführung des Syllogismus, der als solcher recht simpel ist, dann wirklich den kompletten Plan zu entwickeln, wie das geht. Ich bin also selbst in die Irre gelaufen und habe darunter auch massiv gelitten, denn ich wollte den Anforderungen gerecht werden und ich bin schier verrückt geworden, dass nicht zu können, weil ich nicht wusste, wie. Die Ausbildungsangebote, die ich hatte, haben mir das so nicht vermittelt.
D: Kann es sein, dass sich vielleicht auch deswegen nichts ändert, weil diejenigen, die heute vielleicht formal etwas am Studium ändern könnten, sagen: „Ich musste ja auch da durch. Mir hat das ja auch keiner erklärt. Also sollte die Uni das auch zukünftig den Studenten nicht erklären.“ ?
AR: Das Beharrungsvermögen etablierter Juristinnen und Juristen ist gigantisch. Wir sind noch nie oder in den seltensten Fällen durch Innovationen aufgefallen. Es sei denn, sie haben die Jurisprudenz verlassen, wie Goethe, E.T.A. Hoffmann und andere. Ich würde mir wünschen, dass es innerhalb der Jurisprudenz aufgeschlossene Geister gibt. Die gibt es auch, zum Beispiel Stefan Breitenbach mit Mediation. Er ist aber die Ausnahme. Das wären so Leitbilder – nein, generell und von Prüfungsseite ist da wenig zu erwarten. Ich glaube, das muss von unten kommen.
Was man in der Praxis können muss, wird im Jurastudium nicht gelehrt
D: Es muss von unten kommen und es kommt von unten, nämlich aus der Mitte. Ich weiß, du hast bereits einen Kurs ins Leben gerufen und den machst du auch schon seit vielen Jahren. „Lege Artis“, hauptsächlich in München und dort vermittelst du genau das, worüber wir gerade gesprochen haben, nämlich die Methodik, die Grundlagen. Es geht nicht darum, die hundertste Meinung auswendig zu lernen oder den x-ten Streit, sondern es geht darum, die Methodik zu verstehen. Könntest du kurz zusammenfassen, was diesen großen Begriff der Methodik ausmacht? Was vermittelt ihr bei „Lege Artis“?
AR: Wir vermitteln die Schule des kunstgerechten juristischen Denkens. Diese bauen wir im Kurs einzeln auf und wir leiten sie ab aus den Bestandteilen, aus denen juristische Arbeit besteht. Das ist erstens: Zwei oder mehr Menschen, also ein Sender und ein Empfänger. Die Juristinnen und Juristen haben immer mit einem Lebenssachverhalt zu tun und auf den wollen dann Gesetz und Recht angewandt werden (nochmal Artikel 20 Absatz 3). Und das alles findet unter dem Gesichtspunkt einer Fragestellung statt. Das kannst du dir wie eine Pyramide vorstellen, also hier die Seiten und oben die Fragestellungen, die das alles verknüpft und zusammenbringt.
Wir befassen uns also damit, wie man Sachverhalte wahrnimmt, dann die Wichtigkeit von Fragestellungen und dann vor allen Dingen erläutern wir die fünf gedanklichen Schritte bei der Arbeit mit dem Gesetz. Auch da beginnt es mit der Fragestellung. Aus dieser wollen Obersätze abgeleitet werden. Das sind Konditionalprogramme (wenn-dann), die noch abstrakt generell sind. Das muss dann für die Auslegung so weit verfeinert werden, bis man gleichsam von oben nach unten, wie ein Trichter, sich dem Sachverhalt nähert und dann der Abstand so gering ist, dass man erkennt, dass etwas auf der Hand liegt, also das es evident ist. Man muss beweisen, ob der Sachverhalt nun ein Fall der so ausgelegten Norm ist oder nicht.
Transformation wird im Jurastudium nicht geübt
Anschließend wird subsumiert, also festgestellt, ob eben der Sachverhalt ein Fall der Norm ist (ja oder nein) und daraus dann die Schlussfolgerung gezogen wird (Schritt 5). Das ist die Conclusio im logischen Sinne, also die Frage, ob die Rechtsfolge aus dieser Norm eintritt oder nicht. Das ist im Prinzip recht simpel. Wo ist die Schwierigkeit? Dass wir die Prüfungsmaßstäbe, die rechtlichen Regeln, tatsächlich direkt aus Gesetz und Recht entnehmen. Und das überrascht die Studierenden leider. Das ist die allergrößte Lücke der Ausbildung: Den Studierenden wird durch Prüfungsschemata die Transformation der abstrakt generellen Rechtsregeln, wie sie im Gesetz niedergelegt sind, in einen auf die Falllösung bezogenen Prüfungsmaßstab aus der Hand genommen. Diese Transformation wird nicht geübt. Es wird gelehrt, dass ein Gesetz „so ist“, aber wie und warum, das wird nicht gelehrt. Und das ist das Hauptmanko, denn das schreibt nicht nur die Verfassung vor, sondern es wird auch so geprüft.
In den Prüfungsschemata der Examensklausuren sind die einzelnen Tatbestandsmerkmale der Normen tatsächlich aufgelistet – alles ganz sauber. Nur derjenige, der auch bei unbekannten Normen das aus dem Gesetz entwickelt hat, der hat eine Chance, genau diese Merkmale zu treffen. Diese Aufgabe ist tatsächlich enorm schwierig, denn selbst wenn man das Konzept gut verstanden hat, bedarf es einer ganz erheblichen Übung, um das richtig gut zu machen und genau diese Übung machen wir im Kurs.
Sofort subsummieren
Im Rahmen dieser Umwandlung des Gesetzestextes in einen fallbezogen Prüfungsmaßstab, stellen sich sehr viele Fragen der Logik und Sprache. Es ist eine große Kunst, den Sinngehalt des Gesetzes eins zu eins unverfälscht in die eigene Falllösung zu transportieren. Hier gibt es das Missverständnis, dass man als Studierender unbedingt die Wiedergabe des Gesetzestextes vermeiden müsse. Das ist eine gefährliche Irre-Lehre. Man muss sofort subsummieren, wenn das möglich ist, beispielsweise Personen, um die es geht (Schuldner, Gläubiger) oder die Sache.
Sobald man weiß, was das ist, muss man das subsummieren. Insofern geht es nicht darum, das Gesetz abzuschreiben. Aber wenn die Begriffe noch nicht subventionsfähig sind, weil noch nicht evident, dann müssen die eins zu eins unverfälscht erstmal in den Prüfungsmaßstab aufgenommen werden (den Obersatz) und dann sauber ausgelegt werden. Diese Sauberkeit findet so nicht statt. Weder beim Transport der Begriffe, noch in der Auslegung. Denn es ist im Grunde eine ganz außerordentliche Anstrengung, aus dem Gesetz heraus diese Transformationen so zu machen, dass unter Beibehaltung der Bedeutung man letztlich beim Sachverhalt ankommt, so lange bis Evidenz erreicht ist. Diese Arbeit ist enorm anspruchsvoll. Das geht fast nur mit Übung und Anleitung und das wird nicht gelehrt.
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Teil II: „Lege Artis“: Initiative für mehr Methodik und weniger Lernstoff
Weitere Infos
- Über Arnim Rosenbach: Dr. Arnim Rosenbach arbeitet als Rechtsanwalt und Mediator in München. Er ist Lehrbeauftragter für das Seminar „lege artis“ an der LMU, München (seit 2004) sowie an der Humboldt-Universität, Berlin (seit 2019). Zudem ist er ehem. Assistent bei Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Claus-Wilhelm Canaris, München.
- Weitere Infos zum Projekt „Lege Artis“ gibt es auf legeartis-seminare.de
- NJW Editorial 15/2019 von Prof. Dr. Katrin Gierhake, LL.M. über ihren Apell für eine Reform in der Juristenausbildung
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