Eigentlich gibt es ja schon Unis, an denen sich intensiv mit Legal Tech und Digitalisierung auseinandergesetzt wird. Nehmen wir zum Beispiel die LMU oder die Humboldt-Universität zu Berlin, wo Vorlesungen über Legal Tech gehalten und Projekte umgesetzt werden. Oder sind das nur vereinzelte Fälle?
Wie Prof. Anzinger u. a. auf Seite 27 f. ermittelt hat, gibt es mittlerweile an fast allen juristischen Fakultäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz verschiedene Veranstaltungen, wie z. B. Ringvorlesungen, Workshops, Hackathons, Vorträge und außercurriculare Angebote, die neben Studierenden verschiedener Fachrichtungen auch Praktikern zugänglich sind. So finden sich z. B. bei der Goethe-Universität Frankfurt, bei der Europa-Universität Viadrina, bei der Universität Hamburg und bei der Universität Zürich Seminare zu „Legal Tech und juristische Innovationen“, „Legal Tech – von der Vertragsgestaltung bis zum Zivilprozess“, „Algorithmisches Entscheiden und Recht“.
An der LMU gibt es, wie in seiner Studie aufgeführt, ein Grundlagenseminar zu „Recht, Code, Semantik“ und „Synergien zwischen Rechtsmethodik und Software-Engineering“ im Wintersemester 2019/20. Es gab Tagungen, Vortragsreihen und Workshops, z. B. den Vortrag „Liquid Legal: Digitale Transformation des Rechtsmarkts“ im November 2018, Zudem gibt es Veranstaltungen der studentischen Initiative Munich Legal Tech (ML Tech) mit Hackathons, Workshops, Diskussions- und Vortragsveranstaltungen, z. B. den Workshop „Legal Tech for Dummies“. Es gibt Zertifikatskurse des Rechtsinformatikzentrums (RIZ) wie „Grundlagen IT & Recht“. Und es gibt das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Lexalyze“ (Grundlagenforschung im Schnittfeld zwischen Rechtswissenschaft und Informatik) mit Promotionsgelegenheiten.
An der Humboldt-Universität zu Berlin gibt es, wie Prof. Dr. Anzinger in seiner Studie zusammengestellt hat, die Veranstaltung „Legal Tech in der praktischen Anwendung“, die auch als Schlüsselqualifikation anrechenbar ist. Es gibt Seminare aus dem Bereich Data Science und Legal Tech, z. B. „Digitalisierung des Vertrags- und Haftungsrechts“ oder „Digitalisierung des Privatrechts“. Weiter kann die Vortragsreihe „LegalTech“ des Arbeitskreises Legal Tech und einzelne Vorträge genannt werden wie „Legal Tech in der juristischen Ausbildung“. Das Institut für Energie- und Wettbewerbsrecht in der kommunalen Wirtschaft e.V. (EWeRK) unterhält eine Forschungsstelle Legal Tech, an der Promotionsgelegenheiten bestehen.
Bei uns an der FAU gibt es bereits seit mehreren Semestern ein festes Angebot mit Seminaren zu „Legal Tech, Rechtstheorie und Rechtspraxis – Von der juristischen Methodenlehre zur Computerwissenschaft“ oder „Urteilt bald der Richterautomat? Interdisziplinäre Perspektiven auf ‚Legal Tech‘“. Des Weiteren gibt es das Seminar „Legal Tech – von der Vertragsgestaltung bis zum Zivilprozess“ im Schwerpunktbereich Privat- und Wirtschaftsrecht. Es gibt Kursangebote zur anwaltlichen Beratung und Legal Tech und den Moot Court „Digitalisierte Unterstützung in Schieds- und Gerichtsverfahren“, ebenfalls anrechenbar als Schlüsselqualifikation. Schließlich gibt es auch Workshops, Vorträge und Vortragsreihen, z. B. die Veranstaltungsreihe, „Von den Anfängen des Computers zu Legal Tech und E-Akte“.
Darüber hinaus kann ich auf meine jeweils in den Sommersemestern stattfindenden interdisziplinären Vorlesungen „Künstliche Intelligenz (KI) und rechtliches Entscheiden – Wie Legal Tech unseren Berufsalltag verändern wird“ und „Legal Tech – Von der juristischen Methodenlehre zur Computerwissenschaft“ hinweisen. In Kooperation mit dem Legal Tech Center, Berlin ist unsere Fakultät beteiligt an der Summer School „Legal Tech“ in Berlin im Sommersemester 2018 und 2019. Was leider in der Studie von Prof. Dr. Heribert Anzinger nicht erwähnt wurde, ist das interdisziplinäre DFG Graduiertenkolleg 2475 „Cybercrime und Forensische Informatik“ bei uns an der FAU.
Wenn man auf Fachveranstaltungen über die juristische Lehre besucht, wird oft die Frage gestellt: „Wie soll man auch noch Legal Tech in diesen vollen Lehrplan stopfen?“ Ist diese Frage aus Ihrer Sicht berechtigt?
Der Stoffplan ist sehr dicht und es ist aufwendig, in den Juristischen Staatsexamina gut abzuschneiden. Aber es bietet enorme Vorteile, zum Einheitsjuristen auszubilden, da man flexibel bleibt, sich erst spät, wenn überhaupt, spezialisieren muss und lange offenhalten kann, welchen konkreten juristischen Beruf man später ausüben möchte. So kann man auch flexibler auf Veränderungen des Arbeitsmarktes reagieren. Ich würde den Stoff nicht reduzieren, um für Legal Tech Platz zu machen.
Mein Vorschlag ist, Legal Tech mit den Grundlagenfächern Rechtstheorie und Juristische Methodenlehre zu kombinieren. So kann man sich bei uns an der FAU z. B. mit Legal Tech im Rahmen von Proseminararbeiten und Schwerpunktfächern befassen und die ohnehin für das Jurastudium erforderlichen Proseminarscheine bzw. für Bachelorfächer nötigen ECTS-Seminarscheine erwerben. Die Gesetze ändern sich. Fragen zur Juristischen Methodenlehre sind zeitlos. Es lohnt sich für Jurastudierende, sich mit der Juristischen Methodenlehre zu beschäftigen und so auch mit Legal Tech.
Die FAU hat schon länger einen YouTube-Kanal, in dem es auch um Legal Tech geht. Wie wird dieser in den Lehrplan eingebaut?
Unsere Legal Tech-Community an der FAU, insbesondere Dr. Martin Zwickel, mein Doktorand Michael Keuchen und Rechtsanwalt Baltasar Cevc, haben verschiedene Videos produziert. Es gibt die Vorlesung „KI und rechtliches Entscheiden, Von der Juristischen Methodenlehre zur Computerwissenschaft – Legal Tech“ in neun YouTube-Videos und mehr als zwölf 10-15 minütige Interviews mit interessanten Gesprächspartnern aus unterschiedlichen Disziplinen. Diese bieten einen Überblick über Legal Tech-Tools, Grundlagen von Legal Tech, also Juristische Methodenlehre, Rechtstheorie, Wissenschaftstheorie, Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, Philosophie, Logik, Informatik und über die Forschung, die wir an der FAU im Zusammenhang mit Legal Tech betreiben.
Haben Sie Ideen oder Konzepte wie man Legal Tech sinnvoll in den Lehrplan einbauen könnte?
Es ist sinnvoll, Rechtsdogmatik wie seit jeher zu erlernen, aber zusätzlich Praxis und Dienstleistungsprozesse noch besser in die Ausbildung zu integrieren, da typischerweise nicht rechtsdogmatische Konzepte digital repräsentiert werden, sondern einzelne Schritte in Rechtsdienstleistungsprozessen. Neben Fremdsprachen- und BWL-Kenntnissen sind darüber hinaus auch noch Legal Tech-Kenntnisse nötig. Es wäre ein Vollzeitjob, im Bereich Computerwissenschaften auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Dies kann ebenso wenig von Jurastudierenden verlangt werden, wie umfassend programmieren zu können. Ich denke aber, dass wir die Grundzüge in Juristischer Methodenlehre, Rechtstheorie, Wissenschaftstheorie, Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, Philosophie, Logik, Informatik und Mathematik bzw. wenigstens Statistik (Data Science) verstehen sollten. Man sollte als Juristin und Jurist in diesen Bereichen offen sein und etwaige Schnittstellen mit den jeweiligen Fachleuten dieser „fremden“ Disziplinen diskutieren können. Dies erfordert m. E., Grundzüge in den Bereichen nichtklassische Logiken, Programmierung (z. B. Java/Python) und Datenbanken sowie deren Anwendung zu verstehen.
Wenn die/der kommende „Durchschnittsjurist/in“ zwar nicht selbst Legal Tech-Tools programmieren können muss, so sollte sie oder er doch die „handwerklichen“ Fertigkeiten zur Anwendung von entsprechenden Verfahren in diesen Tools verstehen. Das bedeutet, wir sollten in der Ausbildung jedenfalls auch Übungen zur Annotation im Zusammenhang mit Natural Language Processing im Bereich der subsymbolischen KI, dem Machine Learning, und zur Formalisierung von juristischem Wissen mit Hilfe von mächtigen klassischen und nichtklassischen Logiken im Bereich der symbolischen KI veranstalten und diese Fähigkeiten vermitteln. Die kommenden „Topjuristen“ und „Topjuristinnen“ sollten durch gute Ausbildung darüber hinaus in die Lage versetzt werden, aufgrund ihres Verständnisses von juristischen Methoden, praktischen Prozessen, technischen Möglichkeiten, wirtschaftlichen Zusammenhängen und rechtlichen Konzepten, etc. neue Tools zu konzeptionieren sowie entsprechende interdisziplinär zusammengesetzte Teams zu führen, um so entworfene computerwissenschaftliche Applikationen zu realisieren, zu implementieren, zu testen, zu evaluieren und zu vermarkten.
Gibt es noch etwas, das Sie zum Thema hinzufügen möchten?
Ja, gerne. Wir haben viel über die Fragen der Juristenausbildung im Zusammenhang mit der Lehre an den Universitäten gesprochen. Ich denke man sollte wenigstens zum Schluss noch darauf hinweisen, dass wir nur dann gute Lehre anbieten können, wenn wir das Thema Legal Tech auch weiter intensiv wissenschaftlich erforschen. Insbesondere die Forschung zu künstlicher Intelligenz (KI) ist hier zu nennen. Es ist wichtig, Lehre und Forschung zu verknüpfen, um wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern, damit die Vielzahl an denkbaren Forschungsprojekten überhaupt mit genügend wissenschaftlichen Nachwuchskräften realisiert werden können. Hier sollten sich alle angesprochen fühlen, ob als Hilfskräfte oder Doktoranden – wir können Bewerberinnen und Bewerber immer gut brauchen. Jeder, die oder der an Legal Tech-Projekten mitarbeitet, lernt eine ganze Menge. Gemeinsames forschen ist ebenso ein wichtiger Baustein der Ausbildung. Wir können von den MINT-Fächern hier sicher eine Menge lernen, auch wenn sich vielleicht viele nur deswegen für Jura entschieden haben, weil sie sich nicht für Mathematik begeistern konnten. Künftig wird man Strukturwissenschaftliches Interesse an Logik, Mathematik und Informatik benötigen, um ein guter Jurist bzw. Juristin zu sein.
Um Sie neugierig zu machen, darf ich zum Abschluss noch einige Bemerkungen zu unserer KI-Forschung an der FAU machen. Mit Kl lassen sich nur Teile eines Rechtsdienstleistungsprozesses, wie zum Beispiel der Vergleich ähnlicher Vertragsklauseln nach semantischen Vorgaben, bearbeiten. Dabei handelt es sich um sog. „schwache Kl“, die konkrete Anwendungsprobleme in Einzelbereichen lösen kann. Die „starke Kl“, die das Ziel hat, eine Intelligenz zu erschaffen, die das menschliche Denken mechanisieren soll, ist auch bei Legal Tech eine Fiktion. Wir arbeiten an der FAU in beiden Weiten von Kl. Man benötigt Daten, also Präzedenzfälle, um durch Machine Learning eine Kl auf Rechtsprobleme trainieren zu können.
Doch nur weniger als zwei Prozent aller Urteile in Deutschland sind überhaupt veröffentlicht, weil diese dazu erst manuell anonymisiert werden müssen. Daher untersuchen Prof. Dr. Stefan Evert vom Lehrstuhl für Korpuslinguistik und ich zum Beispiel für das Bayerische Justizministerium, ob es möglich ist, Urteile automatisch durch Kl zu anonymisieren und ob eine Maschine dies so gut kann, wie ein Mensch. Wäre das der Fall, hätten wir die nötigen Trainingsurteile, um weitere KI-Systeme zu füttern. Auch im Bereich von Expertensystemen erforschen Prof. Dr. Michael Kohlhase vom Lehrstuhl für Wissensrepräsentation und -verarbeitung und ich, wie man juristisches Argumentieren formalisieren und mit einer Maschine verarbeiten und simulieren kann. Besonders spannend ist, ob man juristische Analogieschlüsse repräsentieren und berechnen kann. Hierzu verwenden wir das eigens für solche Zwecke entwickelte MMT-Framework, welches 600 verschiedene Logiken repräsentieren kann. Auch im Rahmen dieser Projekte kann man sehr gut promovieren.
Herr Professor Adrian, ich danke vielmals für das Gespräch!
Das Interview führte Bettina Taylor.