„Legal Tech“ ist der juristische Modebegriff des Jahres 2018 und voraussichtlich auch des Jahres 2019: Jede mittelständische und jede Großkanzlei, die sich im Rechtsmarkt einen Namen erarbeitet hat und auch zukünftig brillieren will, wirft mit diesem Schlagwort in Kanzleiräumen, Blogs, und auf Fachevents um sich. Dies freilich, nachdem es kleinere Dienstleistungsunternehmen vorgemacht haben und drohen, den Big Playern ein Stück ihres Marktanteils streitig zu machen.
Was Legal Tech für Jurastudierende bedeutet
Das Spektakel um die Digitalisierung des Rechtsmarkts kommt nicht von irgendwoher. Dahinter steht das wirtschaftliche Potenzial, eine bisher wenig beachtete Nachfrage an Beratung zu alltäglichen Verbraucherrechtsfragen zu bedienen. Legal Tech verspricht auch das strukturelle Potenzial, die quantitative und qualitative Leistungsfähigkeit des Rechtssystems zu erhöhen. Denn auf Grundlage von Entscheidungsbäumen können digitale Beratungssysteme in regelmäßigen Fällen, in denen es keiner juristisch beurteilenden Abwägung bedarf, schnell akkurate Ergebnisse liefern.
Legal Tech fordert Juristen zu etwas heraus, wovor sie sich – zumindest in so tiefgreifendem wie dem heute und morgen verlangten Maße – bisher drücken konnten: Interdisziplinarität. Und das nicht mit einer verwandten, gesellschaftswissenschaftlichen akademischen Disziplin, sondern gerade mit den Kontrast-Charakteren der Informatiker und Softwareentwickler (man erkennt sie an den Hoodies, die wahlweise mit „S“, einer schwarzen Fledermaus auf gelbem Grund oder selbstironischen Sprüchen bedruckt sind).
Angesichts der Anpassung von Ausbildungsangeboten an die Anforderungen des Arbeitsmarktes, welche dem Tempo der technologischen Entwicklung nur mäßig gerecht wird, muss sich der heutige Jurastudierende die Frage stellen, wie er den Kompetenzerwartungen des Rechtsmarktes von morgen begegnen will.
Implikationen von Legal Technology für die Zukunft
Die – von einigen vorangetriebene, von anderen nur zurückhaltend oder gar nicht angenommene – Öffnung der Rechtswissenschaften für zunehmend leistungsfähigere technische Lösungen stellt die etablierten Lehrstrukturen dieser Disziplin in Frage. Um die Potenziale der Digitalisierung nutzen zu können, gilt es, aus den analogen Arbeitsmustern auszubrechen.
Ausblick in die Entwicklung des juristischen Arbeitsprozesses
Konkret lassen sich die Auswirkungen von Legal Technology auf die zukünftige juristische Praxis im Wesentlichen wie folgt antizipieren:
Technologisierung: Repetitive Arbeitsschritte und Entscheidungen ohne Abwägungsspielraum werden automatisiert. Auch, wenn noch nicht klar ist, wann Richter und Anwalt ausschließlich kernjuristische Aufgaben Dank Automatisierung verbleiben oder sogar diese durch technologische Systeme übernommen werden.
Prozessoptimierung: Die Mandantenerwartungen an eine zeit- und kosteneffiziente Rechtsberatung steigen, was technologie-averse Advokaten aus dem Konkurrenzkampf drängt.
Lösungsorientierung, Brandbuilding und hierarchische Umstrukturierung: der zukünftige Rechtsdienstleister muss seinen Mandanten von sich, seinem System und Team als Problemlöser überzeugen. Aufgrund des beiderseitig wesensprägenden Einflusses sowohl von Juristen als auch von IT-Experten auf das Ergebnis der Rechtsberatung bedarf es fachübergreifender Kompetenz.
Die Diskrepanz in der Lehre
Die Lehre hat auf diese sich in einem Wandel befindenden Anforderungen an zukünftige Juristen bisher nur mäßig reagiert. Dies ist kein Grund zum Vorwurf. Schließlich befindet sich die taktgebende Kraft des Marktes selbst erst noch in der Anlaufphase, die technologische Relevanz anzuerkennen und angemessen auf sie zu reagieren. Auch ist die Vorbereitung auf sämtliche Herausforderungen im künftigen Berufsleben nicht die alleinige Bestimmung des universitären Studiums. Falsch wäre es jedoch, ein Zögern der Universitäten in der Anpassung ihrer Lehrangebote tatenlos hinzunehmen. Aktuell wird das Fundament der Arbeitswelt von morgen gelegt. Zudem werden sich rechtswissenschaftliche Probleme in den digitalen Handlungsraum verlagern oder dort erst neu entstehen. Die Grundlagen der Entwicklung parallel nachzuvollziehen ist essenziell für Studierende, um die Evolution mitgestalten zu können und um mit den dogmatischen Fragen des zukünftigen Rechts der digitalen Welt umgehen zu können.
Studentisch initiierte Weiterbildung als Antwort auf die neuen Anforderungen
Glücklicherweise finden sich vielerorts tatengetriebene und technologieinteressierte junge Juristinnen und Juristen zusammen, um sich zusammen den Herausforderung des Fortschritts anzunehmen.
Studentische Initiativen
Eine stetig wachsende Anzahl von Vereinigungen widmet sich dem Thema „Technologisierung des Rechtsmarkts“. Zahlreich etabliert haben sich studentische Zusammenschlüsse, die sich in Vereinen organisieren und sich über die aufkeimenden technologischen Begleiter im juristischen Tagesgeschäft austauschen. Sie verfolgen das Ziel, ein Bewusstsein für den Wandel und seine Auswirkungen zu schaffen, den Wissenstransfer zu fördern, sich gegenseitig weiterzubilden und für die Arbeitsmarktanforderungen von morgen zu rüsten. Zweifelsohne stellen die Teilnehmer derartiger „Legal Tech-Labs“ wertvolles human capital für Kanzleien dar, die auch nach der (Teil)Digitalisierung juristischer Arbeit relevant bleiben wollen. Nicht zuletzt deshalb finden viele studentische Initiativen in den Großkanzleien finanzielle Förderer und Unterstützer bei der Event-Organisation.
Universitäre Angebote
Offizielle universitäre Initiativen als Alternative zu privat organisierten studentischen Vereinigungen zum Themenbereich Legal Tech sind dagegen seltener. Eine Anlaufstelle dieser Art bieten für Studierende der Humboldt Universität zu Berlin seit Beginn des akademischen Jahres 2018/19 die Humboldt Consumer Law Clinic für Verbraucherrecht (HCLC). Im 6. Jahrgang der Law Clinic nehmen 27 Jura Studierende aus verschiedenen Fachsemestern teil.
In der Law Clinic der Humboldt Universität soll das traditionelle Angebot studentischer Rechtsberatung durch die Einbeziehung digitaler Legal-Services ausgebaut und einem größeren Adressatenkreis von Rechtssuchenden bereitgestellt werden. Zu diesem Zweck arbeiten die Teilnehmer in drei Ressorts:
- in der klassischen persönlichen Rechtsberatung von Student zu Mandant;
- in einer Redaktion des Legal-Blogs – über dieses Format werden digitale Potenziale und eine hohe Reichweite jenseits von Legal Tech-Anwendungen zur Aufbereitung aktueller Themen und Rechtsprechung für Verbraucher verwertet;
- in der Code-Werkstatt des Legal Tech-Teams soll, nach der Rahmensetzung und Ergründung theoretischer Grundlagen im Wintersemester 2018/19, im Sommersemester die praktische Entwicklung von Softwarelösungen in Angriff genommen werden, an deren Ende im besten Fall online zugängliche und real nutzbare Tools stehen. Sie sollen dem Anwender nach Eingabe der relevanten Sachverhaltsdaten einen ersten Rechtsrat zu alltäglichen, juristisch weniger bis mittelmäßig komplexen Fragestellungen geben können, für die aus wirtschaftlichen Gründen vernünftigerweise niemand einen Anwalt bemühen würde.
An dem letzteren der dargestellten Punkte zeigt sich die Besonderheit des bisher unbeschrittenen Weges, den die HCLC geht: Es geht für die Studenten nicht nur darum, die „Disruption“ des Rechtsmarkts durch Technologie nachzuvollziehen, sondern aktiv an ihr gestaltend mitzuwirken. Mitzumachen hat bekanntlich einen größeren Lerneffekt als zuzuschauen – nebenbei bedienen die Studierenden mit Ihren Arbeitsergebnissen den Beratungsbedarf von Rechtsratsuchenden, die bislang mangels Rentabilität weniger Beachtung fanden und für die nur ein geringes relationales Angebot bestand.
Intention Technologiekompetenz
Die Arbeit an den digitalen Legal Services rückt die Entwicklung von Kompetenzen in den Fokus, welche das Jurastudium naturgegeben nur spärlich bis gar nicht zu vermitteln vermag: projektbezogenes Arbeiten; Teambuilding und Teamorganisation; praktikabilitäts-orientiertes Planen und Umsetzen; nicht zu vergessen das grundlegende Verständnis für die Funktionsweise von Web-Anwendungen.
Diese Kompetenzen gehen Hand in Hand mit dem Kompetenzprofil des Juristen, der technologieunterstützt arbeitet. Dessen Wettbewerbsvorteile gegenüber Anwälten, die noch „klassisch“ arbeiten, sind vielfältig: Er löst Fälle juristisch präziser, erreicht eine breitere Zielgruppe von Mandanten oder Mandate schneller und kann diese mit einem geringerem Kostenrisiko bearbeiten.
Den Ausgangspunkt digitaler juristischer Serviceleistungen bildet eine lösungsorientierte Denkweise, die die Bedürfnisse des Mandanten in den Mittelpunkt stellt und dieses mithilfe einer Service-Lösung zu bedienen sucht. In der Bearbeitungsphase geht es darum, die juristische Logik des Gesetzes in die Syntax eines Computers zu übersetzen, auf deren Grundlage Softwareentwickler das Tool erstellen können. Schließlich darf die pure technische Entwicklung nicht an einer misslungenen Kommunikation zwischen Jurist und Informatiker scheitern.
Zum wertvollen Skillset eines Juristen zählen daher zukünftig juristisches Können, lösungsorientiertes Denken, ein informationstechnisches Grundverständnis und Teamfähigkeit. Lehrangebote, die für sich beanspruchen, den Juristen auf sein morgiges Arbeitsumfeld vorzubereiten, sollten diese Kompetenzen vermitteln. Im Optimalfall geschieht dies – wie an der HCLC – im Laufe des praktischen Trainings.
Der Organisationsansatz der Humboldt Universität
Mit eben jener Zielsetzung soll ein 2018 ins Leben gerufener Arbeitskreis Legal Tech an der Humboldt Universität sämtliche Bemühungen von Law-Clinics, der Forschungsstelle Legal Tech, sonstigen forschenden Einrichtungen der Universität, der RAILS (Robotics and Artificial Intelligence Law Society), Kolloquien und Lehrveranstaltungen bündeln und organisatorisch aufeinander abstimmen. Wichtiger Teilnehmer des Arbeitskreises sind nicht nur ausschließlich Universitätsangehörige, sondern genauso Experten anderer wissenschaftlicher Institutionen – dies vor allem aus dem IT-Bereich. Interdisziplinärer Wissenstransfer rückt damit an der Humboldt Universität in eine zentrale Position, um den Aufbau eines Forschungs- und Bildungsnetzwerks voranzutreiben.
Anmerkung des Autors
Dieser Artikel wurde nicht im Auftrag oder stellvertretend für die Humboldt Universität zu Berlin oder die Humboldt Consumer Law Clinic verfasst. Er soll die im Bereich Legal Tech wirkenden Institution der Universität sowie die Möglichkeiten der Beteiligung von Studierenden aus studentischer Sicht aufzeigen und stellt meine persönliche Sichtweise dar.
Über den Autor Philipp Kürth
Philipp Kürth (20) ist Student der Rechtswissenschaften an der Humboldt Universität zu Berlin. Er fing das Studium nach seinem Abitur in seiner Heimatstadt Coswig bei Dresden 2017 an und begann im Frühjahr 2019 das vierte Fachsemester. Er begeistert sich für die neuen technischen Entwicklungen und ihre rechtlichen sowie gesellschaftlichen Auswirkungen, insbesondere im Bereich der künstlichen Intelligenz. Er ist im akademischen Jahr 2018/19 Teilnehmer sowie studentischer Mitarbeiter der Humboldt Consumer Law Clinic für Verbraucherrecht (HCLC), die in diesem Jahrgang ihre Rechtsberatung um die Bereitstellung digitaler Lösungen zur verbraucherrechtlichen Erstberatung und zur Prozessoptimierung erweitert. Zudem ist er Mitglied des Arbeitskreises Legal Tech der juristischen Fakultät der Humboldt Universität.
Kontakt
E-Mail: philipp.kuerth@web.de
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Fotos: Adobe Stock/zonc; Philipp Kürth