Wiederaufnahme Strafverfahren

Ein „unerträglicher Gerechtigkeitsverstoß“ und „exzeptionelles“ (CDU) beziehungsweise „schreiendes“ (SPD) Unrecht haben die Koalitionsfraktionen dazu bewogen, kurz vor Ende der Legislaturperiode noch eine Gesetzesänderung zum Wiederaufnahmerecht zu beschließen, die an den strafprozessualen Grundprinzipien mehr als nur kratzt.

Details und Stellungnahmen zum Gesetzesvorhaben zur Wiederaufnahme abgeschlossener Strafverfahren gibt es in diesem Beitrag im Überblick.

Wiederaufnahme abgeschlossener Strafverfahren: Gesetzentwurf in letzter Minute

Für die frühen Morgenstunden am Freitag ist die Abstimmung über den „Entwurf eines Gesetzes zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ vorgesehen. Dahinter verbirgt sich das Vorhaben, die Wiederaufnahmegründe zuungunsten eines Verurteilten nach § 362 StPO zu erweitern. Bisher ist das Wiederaufrollen eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des Angeklagten nur zulässig, wenn

  • eine in der Hauptverhandlung zu seinen Gunsten als echt vorgebrachte Urkunde unecht oder verfälscht war,
  • der Zeuge, bzw. die Zeugin oder Sachverständige sich bei einem zugunsten des oder der Angeklagten abgelegten Zeugnis oder abgegebenen Gutachten einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzung der Eidespflicht oder einer vorsätzlichen falschen uneidlichen Aussage schuldig gemacht hat,
  • bei dem Urteil ein Richter, bzw. eine Richterin oder ein Schöffe, bzw. eine Schöffin mitgewirkt hat, der oder die sich in Beziehung auf die Sache einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten schuldig gemacht hat
  • oder von dem oder der Freigesprochenen vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubwürdiges Geständnis der Straftat abgelegt wird.

Was sieht der Gesetzentwurf vor?

Nach dem Willen der Koalitionsfraktionen soll dazu jetzt ein weiterer Grund hinzukommen, und zwar wenn

  • neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der oder die freigesprochene Angeklagte wegen Mordes, Völkermordes, des Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechens gegen eine Person verurteilt wird.

Im Klartext: Bei unverjährbaren Straftaten soll künftig ein Freispruch aufgehoben werden können, wenn es neue, überzeugende Beweise für die Schuld gibt.

Fall Möhlmann als Anstoß

Hintergrund für den Vorstoß ist vor allem ein Fall – der Fall Möhlmann. Die siebzehnjährige Schülerin Friederike Möhlmann wurde 1981 vergewaltigt und getötet, ein Tatverdächtiger wurde im weiteren Verlauf letztendlich freigesprochen. 2012 dann hat eine DNA-Untersuchung, die zum Zeitpunkt des ursprünglichen Verfahrens technisch noch nicht möglich war, nahegelegt, dass es sich beim Täter doch um den damaligen Verdächtigen handeln könnte. Der Vater von Friederike Möhlmann und sein Anwalt, der frühere Bundesanwalt Wolfram Schädler, setzen sich seit vielen Jahren für eine Gesetzesänderung ein, die eine Wiederaufnahme abgeschlossener Strafverfahren in solchen Fällen erlaubt.

Verstoß gegen „ne bis in idem“-Grundsatz?

Die Anhörung im Rechtsausschuss, zu der auch Wolfram Schädler als Sachverständiger geladen war, drehte sich insbesondere um die Frage, ob eine solche Erweiterung der Wiederaufnahmegründe gegen den „ne bis in idem“-Grundsatz verstoße, nach dem niemand wegen derselben Straftat zweimal bestraft, respektive nach einem rechtskräftigen Urteil erneut angeklagt werden kann.

Nein, sagte beispielsweise Jörg Eisele von der Uni Tübingen. Artikel 103 Abs. 3 GG, in dem das Verbot der Doppelbestrafung niedergelegt ist, gelte nicht absolut, denn es gebe bereits Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten Beschuldigter, die den Grundsatz durchbrechen, so seine Argumentation. Ein Abweichen von der Rechtskraft sei zulässig, wenn es anderenfalls zu unerträglichen Ergebnissen führen würde, innerhalb dieser Schranken bewege sich auch der vorgelegte Entwurf.

Anders sah das beispielsweise Helmut Aust von der Universität Berlin. Er meint, dass die angedachten Erweiterungen nicht nur Korrekturen betreffen, sondern in den Kernbereich von 103 Abs. 3 GG eingreifen. Es handele sich um „eine Operation am offenen Herzen von ’ne bis in idem'“.

Kategorie der Unerträglichkeit „keine Rechtskategorie“

Auch der Berliner Rechtsanwalt Stefan Conen lehnte den Gesetzentwurf nachdrücklich ab. Er führt dabei ebenfalls verfassungsrechtliche Gründe an, kritisiert aber auch, dass das Vorhaben mit einer „empfundenen und behaupteten Unerträglichkeit“ eine „Gefühlskategorie zur Schleifung des Art. 103 Abs. 3 GG bemüht, die rationalen Argumenten von vorneherein nicht mehr zugänglich ist“.

Die Kategorie der „Unerträglichkeit“ sei als Richtschnur für Grenzziehungen gänzlich ungeeignet, so der Anwalt. Und in der Tat ist schwer erklärlich, inwieweit beispielsweise Opfer eines Mordversuches oder schwerer Sexualverbrechen weniger unerträglich leiden, wenn die Taten ungesühnt bleiben. Im Gegenteil dürfte es für sie erst recht unerträglich sein, so schreibt es Conen in seiner Stellungnahme, wenn ihnen allein deshalb die Genugtuung verwehrt bliebe, weil sie überlebt haben.

Insgesamt dürfte fraglich sein, ob die Neuregelung tatsächlich den Hinterbliebenen von Mordopfern dient. Denn auch wenn ein Freispruch möglicherweise unbefriedigend und schwer zu verdauen ist, ist er doch ein Abschluss. Und ein erneutes Verfahren Jahre oder gar Jahrzehnte nach der Tat kann für die Betroffenen auch dazu führen, dass der emotionale Schmerz wieder lebendig wird. Das gilt erst recht, wenn auch dieses Verfahren beispielsweise mit einem Freispruch endet. Denn auch wenn die neuen Beweise „dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte (…) verurteilt wird“ – garantiert ist das nicht.

Foto: Adobe Stock/©Семен Саливанчук

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